Zmicier Vishnioŭ
Die kulturelle „Nullpunkt“-Situation, die anhaltenden harten Repressionen in Belarus gegenüber allen und allem, was dem Staat nicht genehm ist, sowie der Krieg waren und sind für Vishnioŭ mit einem radikalen, beruflichen wie biographischen Bruch verbunden, angesichts dessen er für sich als derzeit einzige adäquate Form des Schreibens die Lyrik gewählt hat. Die in den Band eingegangenen Gedichte sind zwischen 2022 und 2023 nach Zmicier Vishnioŭs Ausreise aus Belarus in Åmål, (Schweden), Schloß Wiepersdorf und Berlin entstanden. Einzelne Gedichte veröffentliche Vishnioŭ teils kurz nach ihrem Entstehen vorab auf den Social-Media-Plattformen Facebook und vkontakte. Die komplette Sammlung von insgesamt 58 Gedichten fasste er unter dem Titel непадпарадкаванае (ununtergeordnetes) zu einem Gedichtband zusammen
Der Titel непадпарадкаванае (belarus.: ununtergeordnetes) zeigt eine Grundverfasstheit der Widerständigkeit an. Die Unterordnungsverweigerung geht in den hier versammelten Gedichten von einem aktiven „Ich“ aus, das hochwachsam die Grenzen der gegebenen (erlebten, lebbaren, ertragbaren, wünschenswerten) Wirklichkeiten und Sprachräume erkundet und überschreitet. Ein Sich-nicht-unterordnen-Wollen oder (nicht-Können) ist jedem der Gedichte, jeder Strophe, Zeile wie eine DNA eingewoben. So wie der Titel birgt auch jedes der 58 Gedichte seinen ganz eigenen Charakter der Weltbeschreibung und -erschließung, wobei die Grenzen zwischen Universalien und Alltäglichkeiten, Wirklichkeit und Traum, Gegenwart und Vergangenheit, Ich und Du, Hier und Dort verschwimmen und sich ineinander verstülpen.
Die Gedichte sind in 5 Abschnitte unterteilt. Die Überschriften „Helden“, „Schiffe“, „Luft“, „Freunde“, „Schatten“ bilden einen groben motivischen Rahmen für die thematischen Bewegungen, die von persönlichen Erinnerungen an biographische Vergangenheiten und individuellen Suchbewegungen, über Tiefenbohrungen in kulturelle Schichtungen und Zustandserfassungen eines repressiven Staats bis zu somnambulen Wanderungen durch irritierende Bildlandschaften und märchenhaften Szenerien reichen. Das lyrische Ich bei Vishniou ist haltlos, verloren, verstört und zugleich selbstbewusst und König seiner und Erschaffer neuer Welten.
Die meisten Gedichte sind in offener, reimloser Form, verfasst; der Blick wird so unmittelbar auf die für sich und selten stellvertretend stehenden Bilder gelenkt. Vishnioŭs Gedichte leben insbesondere von den sehr starken Bildern. Je öfter man ein Gedicht liest, desto mehr ist man herausgefordert, sich die, oftmals punktgenau für sich sprechenden und dennoch nicht unmittelbar eingängigen Bilder minutiös zu erschließen. Je weiter man sich auf diesen Weg der Bildentschlüsselung begibt, desto mehr wird man durch die Freisetzung der eigenen präzisen Vorstellungskraft und gleichzeitig durch das Eintauchen in die belarusische und europäische Sprach- und Kulturlandschaft belohnt.
Neben den Bildern leben die Gedichte des Bandes von der faszinierenden Dynamik aus Takt und Rhythmus, die bei Vishnioŭ stets (ganz im Stile der Bum-Bam-Lit-Bewegung) auf (s)eine expressiven Gedichtperformances abzielen.
Die große Qualität der Gedichtsammlung liegt darin, dass er einerseits ganz im Sinne vom Bum-Bam-Lit die Sprache abklopft, ausdehnt, zur Bilderentzifferung aus- und herausfordert und andererseits thematisch durchaus politisch ist und teils auf die eigenen Erfahrungen zurückgreift, die von großen politischen Umbrüchen und Krisen auch schon die Jahre zuvor gekennzeichnet sind. Dadurch entsteht ein durch und durch differenziertes politisches Sprechen, an dem es sonst so oft mangelt.
Gedicht aus непадпарадкаванае (ununtergeordnetes) (vom 17.09.2022)
nachrichten
in dein sechzehntes jahr zurückkehren und doch an die suworow-militärschule gehen dann dienen die dienstleiter aufsteigen sich zusammenreißen die schulterklappen mischen die sterne in spiritus abwaschen dies werden und jenes
und in diesem land einen bewaffneten aufstand zustande bringen zurückkehren
jeden tag die nachrichten aus dem krieg politiker in helmen betrachten die landkarte diese nahmen Bucha und diese schossen vom grad diese ließen den panzer stehen und diese sackten den panzer ein Cherson Charkiv Lyman menschen kommen um
und viel fett auf den gesichtern der politiker gehirne verwandeln sich zu speck
viel pastete unglaublich viel essen viel viel speck und brot
die gopniks haben die macht ergriffen ein kolchosnik paradiert in epauletten halbgebildete kinder mit maschinengewehren spielen supermann ein aggressives transparent eine laute trommel ein goldenes horn und der beste präsident die wunderbare rot-grüne welt der general erklärt die schönheit den kindern wird erzählt wie man eine granate richtig wirft wie man salutiert und die flagge küsst
denkmäler der blutsauger werden rausgetragen in die sonne die farbe bröckelt
strahlen verbrennen die haut lichthasen kitzeln in den augen
viele ansprachen eine unglaubliche menge von klängen
навіны
вярнуцца ў свае шаснаццаць гадоў і ўсё ж паступіць у сувораўскую вучэльню потым служыць расці па службовай лесвіцы мацавацца тасаваць пагоны абмываць зоркі ў спірце зрабіцца тым і гэтым
і ажыццявіць у гэтай краіне ўзброеннае паўстанне вярнуцца
штодня навіны з вайны палітыкі ў касках разглядаюць мапу гэтыя ўзялі Бучу а гэтыя стрэлілі з градаў гэтыя кінулі танк а гэтыя танк падабралі Херсон Харкаў Ліман гінуць людзі
і шмат тлушчу на тварах палітыкаў мазгі ператвараюцца ў сала
шмат пашцета неверагодна шмат ежы шмат шмат сала і хлеба
гопнікі захапілі ўладу калгаснік красуецца ў эпалетах недавучаныя дзеці з аўтаматамі граюць у супермэнаў агрэсіўны транспарант гучны барабан залаты горн і самы лепшы прэзідэнт цудоўны чырвона-зялёны свет генерал даводзіць аб прыгажосці дзецям распавядаюць як правільна кідаць гранату як аддаваць салют і цалаваць сцяг
помнікі крывасмокаў выносяць на сонца фарба крышыцца
промні апякаюць скуру сонечныя зайчыкі казычуць вочы
шмат прамоў неверагодная колькасць гукаў
17.09.2022
Zmicier Vishnioŭ (* 1973 in Debrecen, Ungarn) ist ein belarusischer Prosaschriftsteller, Dichter, Performance-Künstler, Maler und Verleger. Er ist einer der prägendsten Akteure der unabhängigen Kulturszene in Belarus und mit Prosatexten, Essays und Gedichten einer der markantesten Stimmen der belarusischen Gegenwartsliteratur.
Vishnioŭs Texte stehen und entstehen stets in einem dynamischen Prozess mit seinen anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Er gehört zu den Mitbegründern der legendären Künstlerbewegung Bum-Bam-Lit, die in den 1990er Jahren die Grenzen der Literatur zu sprengen und eine Synthese der Künste anzustreben suchte. Aus der Bum-Bam-Lit-Bewegung ging u.a. die von Vishnioŭ geleitete Perfomancegruppe Sondereinheit afrikanischer Brüder (die mit radikalen Aktionen den offiziellen Kulturbetrieb provozierten) und die von ihm mitbegründete literarische Vereinigung Schmerzwerk (die vehement den Schmerz zum lyrischen Programm machten) hervor. Ihnen allen ging es um eine Erneuerung der Sprache und der Kunst und um ihre Befreiung von der sowjetischen Tradition.
Vishnioŭs Arbeit an der Sprache wird begleitet durch die Malerei. Seine surrealistisch-märchenhaften Bilder wurden in Belarus und im Ausland ausgestellt, unter anderem im Kunsthaus Tacheles (Berlin), im Museum für nonkonformistische Kunst (Sankt Petersburg) und zuletzt in der Kulturstiftung Schloß Wiepersdorf.
Seit 2007 leitete er gemeinsam mit Michas Bashura den unabhängigen Verlag Halijafy. Der Verlag widmet sich vor allem der belarusischsprachigen Literatur mit besonderer Aufmerksamkeit für Debüts und vergessene Werke des letzten Jahrhunderts. Die Tätigkeit des Verlags sowie der Verkauf von Büchern in der verlagseigenen Buchhandlung wurden 2022 von den staatlichen Behörden verboten. Dem war monatelanger Druck seitens des Informationsministeriums und Steuerprüfungen vorausgegangen – eine übliche Methode der belarussischen Behörden, um unabhängigen Einrichtungen die Lizenz zu entziehen. Vishnioŭ reiste im Sommer 2022 aus Belarus aus, aufgrund von Drohungen kehrte er nicht, wie geplant zurück. Seither versuchen er und seine Mitarbeiter nach alternativen Finanzierungs- und Produktionsmöglichkeiten, zumindest für die im Prozess stehen gebliebenen Buchproduktionen
Vishnioŭ ist Autor von zahlreichen Büchern, darunter der Anti-Roman Калі прыглядзецца — Марс сіні (Wenn man genau hinsieht ist der Mars blau, 2018) und Замак пабудаваны з крапівы (Das Brennesselhaus, 2010, dt. von Martina Jakobson 2014 bei luxbooks) sowie die Gedichtbände Штабкавы тамтам (Gestreiftes Tamtam, 1998), Фараон у заапарку (Pharao im Zoo, 2006), Тамбурны маскіт (Tamburin-Moskito, 2001), der Prosaband Трап для сусьліка, альбо Нэкрафілічнае дасьледаваньне аднаго віду грызуноў (Gangway für den Ziesel, oder Die nekrophile Untersuchung einer Nagetierart, 2002) und Essaybände. Seine neueste Sammlung an Gedichten Непадпарадкаванне (Unterordnungsverweigerung) entstand 2022 und 2023.
Bisher ist kein Gedichtband von Zmicier Vishnioŭ ins Deutsche übersetzt.
Die Publikation entsteht in Zusammenarbeit mit dem Verlag Lohvinaŭ. Dieser wurde 2000 als unabhängiger Verlag gegründet und hat sich vor allem auf die belarusischsprachige Literatur spezialisiert. Lohvinaŭ hat unter anderem Autor:innen wie Alhierd Bacharevič, Valiancin Akudovič, Ales Rasanaŭ, Natalka Babina und Artur Klinaŭ unter Vertrag. Die Buchhandlung Lohvinaŭ war ein wichtiger Veranstaltungs- und Begegnungsort in Minsk. 2013 wurde dem Verlag die Lizenz entzogen, seitdem ist er im litauischen Exil als Literaturhaus Lohvinaŭ tätig.
Die Publikation erscheint beim Elif-Verlag, der sich seit 2011 hauptsächlich der Publikation "unwahrscheinlicher Lyrik" verschrieben hat. Elif, geführt von Dincer Gücyeter, publiziert Debüts, experimentelle zeitgenössische Lyriker:innen und Klassiker:innen in neuen Übersetzungen. Pro Saison erscheinen bis zu 8 Bücher, "Ununtergeordnetes" ist für Herbst 2025 anvisiert.
Dr. Nina Weller, Übersetzerin und Herausgeberin des Bandes, ist Slawistin, Übersetzerin und Literaturvermittlerin und forscht zu Erinnerungskulturen, Literaturleben und Populärkulturen in Belarus, der Ukraine und Russland. Sie ist Mitbegründerin von Stimmen aus Belarus und hat neben den Anthologien BELARUS! Das weibliche Gesicht der Revolution (2020) und „Alles ist teurer als ukrainisches Leben” – Texte über Westsplaining und den Krieg (2023) und Autorin bzw. Herausgeberin wissenschaftlicher Bände und Texte. Sie übersetzt aus dem Russischen und Belarussischen. Im Herbstsemester leitete sie (gemeinsam mit Iryna Herasimovich) die 4. Belarussisch-Deutsche ViceVersa-Übersetzerwerkstatt.
Zmicier Vishnioŭ hat die zwischen 2021 und 2022 verfassten Gedichte unter dem Titel Непадпарадкаванне (Unterordnungsverweigerung) selbst zusammengefasst und angeordnet. Diese Version des Manuskripts hat er gemeinsam mit seiner Lektorin Iryna Herasimovich bereits finalisiert. Die Übersetzung ist in Zusammenarbeit von Nina Weller (Übersetzung) und Iryna Herasimovich (Lektorat) in Arbeit. Vorab wurden bereits fünf Gedichte übersetzt, anlässlich unterschiedlicher Veranstaltungen öffentlich gelesen und teils in Veranstaltungsbroschüren abgedruckt. Die Geldgeber:innen und Publikationsorte dieser Erstübersetzungen werden in der Buchpublikation genannt.
Die Übersetzung wird vom Slavischen Seminar der Universität Zürich gefördert.
Geplant:
Homepage Zmicier Vishnioŭ.
Zmicier Vishnioŭ/PEN.
“Papa, was ist Junta”, Essay in Point of No Return – Stimmen aus Belarus/Digital Essay LCB.
„Meine Freiheit ist betrunken und tanzt nackt“, Essay im Projekt Weiter Schreiben.
Alena Lepischawa, Zmicier Vishnioŭ, Viktar Zhybul (Hg.) (Hg.): Нетутэйшыя: Reversion. Erste Publikation bei 33 Bücher für ein anderes Belarus.